Kartoffelgeschichte und -Geschichten

20. Was war der Auslöser für Arbeiterunruhen zwischen 1845 und 1847?

Infolge von Kartoffelmissernten durch Befall mit der Kraut- und Knollenfäule (Phytophthora infestans) in mehreren nasskalten Sommern kam es unter den Bauarbeitern der Eisenbahnlinie Köln - Minden/Westfalen zu Aufständen und Arbeitsniederlegungen. Der erste Spatenstich für den Bau der "Rhein-Weser-Eisenbahn" erfolgte Anfang Juni 1844 an der Porta Westfalica bei Minden. Bei gleichbleibenden Löhnen der Eisenbahnarbeiter von 12 bis 15 Silbergroschen pro Tag verdoppelten sich die Kartoffelpreise durch Krautfäule-Befall von 20 Silbergroschen je Scheffel im Juli 1844 auf über 40 Silbergroschen je Scheffel im Jahr 1847. Das entspricht einer Preissteigerung auf einen Silbergroschen je Kilogramm Kartoffeln. Geht man davon aus, dass eine fünfköpfige Arbeiterfamilie damals durchschnittlich 20 kg Kartoffeln in der Woche verzehrte, so hätte der Wochenverdienst des Familienvaters noch nicht einmal für die Versorgung mit Kartoffeln ausgereicht.

Zu Beginn des Jahres 1847 verbreitete sich infolge der Kartoffelfäule in Württemberg, Hessen-Kassel, Preußen und Österreich eine Hungersnot. Der Hungertyphus raffte allein in Oberschlesien 16.000 Menschen dahin. Die Not brach sich Bahn in Hungerkrawallen, die den Berlinern auch als "Kartoffelrevolution" im Gedächtnis geblieben ist. Ab Herbst 1847 besserte sich die Ernährungslage aufgrund einer guten Kartoffelernte wieder (s. Frage 19).

Die Hungerjahre waren der Auslöser für die gescheiterte demokratische Revolution von 1848 (s. Frage 14). In den 1840er und 1850er Jahren verließen über eine Million Menschen ihre deutsche Heimat und wanderten nach Nordamerika und in die französischen Kolonien, v.a. nach Algerien, aus. Aber auch das Gebiet an der unteren Wolga und Georgien waren Ziele deutscher Auswanderer. Arme, die die Reisekosten nicht mehr aufbringen konnten, wurden von vielen Gemeinden regelrecht "deportiert", um sich von der Pflicht der Armenunterstützung zu befreien, die vor allem in dem Krautfäulejahr 1845/46 die öffentlichen Kassen überforderte.

Politische Flüchtlinge unter diesen "Fourty Eightern", wie sie in Amerika genannt wurden, stellten bei dieser Massenauswanderung nur eine Minderheit von wenigen tausend Menschen dar. Mangel an Nahrung, Land und Arbeit waren es, was die Menschen aus dem Land trieb, weniger der Mangel an demokratischen Freiheiten. Die ungerechten feudalen Verhältnisse in Deutschland, die Georg Büchner (1813-37) in seiner Kampfschrift "Der hessische Landbote" eindringlich schildert, waren die eigentliche strukturelle Ursache, dass die verarmte bäuerliche Bevölkerung bei schlechter Ernte in Hunger und Not versank. Im Großherzogtum Hessen mussten z.B. kleinbäuerliche Familien bis zu 80 Gulden jährlich an Steuern entrichten. Da sie eine Selbstversorgungslandwirtschaft betrieben, verkauften sie ihre Erzeugnisse nur, um Geld für die Steuerzahlungen zu haben. Konnten sie die Steuerschuld wegen einer Missernte nicht aufbringen, so wurden Haus und Hof gepfändet und die Familie von ihrem Besitz vertrieben. Fortan gehörten diese Menschen zu den Dorfarmen, die man bei der ersten Gelegenheit nach Übersee abschob, damit sie der Gemeindekasse nicht mehr zur Last fielen.

Die Kartoffelerträge gingen durch den Ausbruch der Krautfäule-Epidemie in den Jahren 1845 bis 1851 auf 20 bis 25 % des Normalertrages zurück. Das waren nur noch 5 bis 6 Tonnen/ha, die sich wegen der mit der Krautfäule einhergehenden Knollen-Braunfäule im Winterlager nicht mehr hielten. Vielerorts ging man daher wieder verstärkt zum Anbau von Getreide und Kohlrüben über oder baute Frühkartoffeln an, die weniger befallsgefährdet sind als Spätkartoffeln, sich aber in der Regel nicht über Winter im Lager halten (s. Frage 24).



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