Kartoffelgeschichte und -Geschichten

45. Wie beeinflußte der Kartoffel-Branntwein das Volksleben?

Kartoffelbranntwein wurde durch die wachsende Verbreitung der Billigbrennereien und seiner häufigen Verwendung als Teil des Lohns zu einer wahren Volksseuche. Mit dem hochprozentigen Fusel wurden die Gutsarbeiter, ihre Frauen und sogar die Kinder enthemmt und gleichzeitig beschwichtigt, um sich am nächsten Tag nach der Ernüchterung noch tiefer ihrer unterdrückten Situation bewusst zu werden, während sich der Herr Baron und sein Inspektor in dem Gefühl gefallen konnten, ihren Leuten etwas Gutes gegönnt zu haben.

Der Schriftsteller Hans F a l l a d a (1893-1947), der das Leben der Gutsarbeiter während seiner Tätigkeit als landwirtschaftlicher Beamter auf pommerschen Gütern kennengelernt hatte, berichtet:

"Kein Funke erleuchtete je ihre Gehirne. Jeder kleine, verhungerte, arme Sandbauer war ihnen überlegen, denn er musste bei der Aussaat an die Ernte denken. Sie dachten bei der Aussaat an den Feierabend.
Sie liebten den Schnaps ... . Es wurde Kartoffelschnaps gebrannt, ein 96-%iges höllisches Zeug. Die Reichsmonopolverwaltung nahm es ab. Unter der Aufsicht von grünen Zöllnern wurde es in große Eisenfässer gefüllt. Die Fässer wurden plombiert, auf Leiterwagen geladen, zur Bahn gefahren, in Kesselwagen umgefüllt. Auf dem Bahnhof war die Umfüllvorrichtung noch ganz primitiv: die Fässer wurden in eine große, offene Wanne entleert, die mit einer Pumpe in den Kesselwagen leer gepumpt wurde.
Einmal führte aus Versehen nur ein Zöllner die Aufsicht dabei. Stand er bei den zu öffnenden Fässern, so warfen sich die Leute bei der Wanne flach auf die Erde und soffen den Sprit, dass sie dunkelrot wurden und ihnen der Atem wegblieb. Stürzte der Zollaufseher zur Wanne, so kippten sie die schon offenen Fässer an, dass ein Strom von Alkohol über Gesicht und Brust des davor knienden Mannes sich ergoß.
Sie waren alle sinnlos betrunken, als sie sich mit den leeren Leiterwagen auf den Heimweg machten. Nach drei Minuten kamen sie auf die Idee, eine Wettfahrt zu veranstalten. Zwölf vierspännige Leiterwagen fingen an zu rasen. Sie brüllten und schlugen auf die verängstigten Pferde ein. Auf der schmalen Chaussee prallten die Wagen aneinander, dass das Holz splitterte. Leute stürzten mit zerschlagenen Köpfen ab, Wagen rannten sich an Chausseesteinen fest, Pferde stürzten. Sie johlten und grölten. Sie rasten in die Nacht hinein mit geröteten Gesichtern, stieren Augen - nicht einer kam von selbst nach Haus.
"



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