Kartoffelgeschichte und -Geschichten

10. Wie verbreitete sich die Kartoffel in Europa?

Um Mitte des 16. Jahrhunderts gelangten einige weidassfleischige rotschalige Kartoffelknollen von Cuzco, der Hauptstadt des alten Inkareiches (in den peruanischen Anden gelegen) über den kolumbianischen Hafen Cartagena an den spanischen Hof. Bauern rund um Sevilla, dem damals wichtigsten Amerika-Hafen Spaniens, bauten schon seit etwa 1570 die ersten Kartoffeln auf freiem Feld an. In den Ausgabebüchern des Hospitals de la Sangré in Sevilla aus dem Jahre 1573 und später fand man Aufzeichnungen über den Kauf von Kartoffeln für Kranke. Phillip II. von Spanien schickte bereits 1566 einige Kartoffelknollen an den erkrankten Papst Pius IV. Diese Verwendung belegt, da dass die Kartoffel damals offenbar als kräftigendes Heilmittel (Tonikum) angewendet wurde. Ende des 16. Jahrhunderts mudass der Anbau in Spanien aber noch gering gewesen sein, da Kartoffeln bis 1584 nur pfundweise, später in "Arroba" (5-6 kg) gehandelt wurden.

Über einen päpstlichen Gesandten kamen spanische Kartoffeln nach Mons im heutigen Belgien, den damals spanischen Niederlanden. 1588 sandte der Präfekt von Mons, Philippe des Sivry, dem berühmten flandrischen Botaniker Charles d"Ecluse (Carolus Clusius, s. Frage 5) zwei Knollen und eine Frucht, die er noch im gleichen Jahr im Botanischen Garten in Wien anbauen ließ, zu dessen Gründer und Leiter er von Kaiser Maximilian II. berufen worden war. Im Zuge der katholischen Gegenreformation musste Clusius als Protestant die Leitung der kaiserlichen Gärten in Wien aufgeben. Ab 1589 wirkte er daher in Frankfurt am Main und am Hof des Landgrafen Wilhelm IV. in Kassel (s. Frage 35), wohin ihm Sivry ein Aquarell der Kartoffelpflanze schickte, das erste Kartoffelbild in Europa. 1593 wurde Clusius Professor an der Universität Leiden in den Niederlanden (s. Kap. 9, Frage 166), wo er ebenfalls die Kartoffel bekannt machte. Durch Sendungen an seine Korrespondenten leitete er die Verbreitung als Gartenpflanze im gesamten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein. Bald danach waren Kartoffeln, vor allem wegen ihrer schönen Blüten, in vielen Universitäts- und Lustgärten der weltlichen und geistlichen Fürsten zu bewundern (s. Frage 5). Als wertvolle botanische Rarität wurden sie von einem Fürstenhof zum andern gesandt und nur selten erkannte man ihren Wert als Nutzpflanze (s. Frage 35). Aus dieser Zeit stammt auch das Bildnis von John Gerard, des Hofbotanikers der englischen Königin Elizabeth I., der sich in vollem Hof-Ornat mit einem blühenden Kartoffelzweig in der Hand auf dem Titelblatt seines Kräuterbuchs "The Herball, or General History of Plants" (1697) abbilden ließ.

Von den Anden-Kartoffeln, die 1586 mehr zufällig (vielleicht durch Schiffsabfälle) nach England gelangten (s. Frage 8), hat wahrscheinlich der Seefahrer Sir Walter Raleigh einige erhalten, die er auf seinem Gut bei der Stadt Youghal in der irischen Grafschaft Cork ab 1588 anbaute. Die erste zuverlässige Nachricht über den Anbau in Irland stammt von 1606. Englische oder irische Kartoffeln kamen 1620 mit englischen Truppen in die Niederlande und 1708/9 mit zurückkehrenden Soldaten aus England nach Dänemark. Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Kartoffeln aus England in Schweden und Russland eingeführt.- Nachdem Deutschland und Österreich die erste Verbreitung dem Botaniker Clusius verdanken, begann zwischen 1620 und 1640 eine zweite Ausbreitung durch die Einfuhr englischer Kartoffeln nach Hessen, Mecklenburg, Westfalen und Franken. Deutschland und Österreich haben später bei der Ausdehnung der Kartoffelkultur in den Ostseeraum, nach Polen und Russland sowie in die Balkanländer eine wichtige Rolle gespielt.

In Frankreich ist die Kartoffel vergleichsweise spät heimisch geworden. Sie kam zwar um 1600 aus der Schweiz nach Südfrankreich und 1655 nach Paris, doch verhinderte das Gerücht, da sie der Erreger der Lepra sei, ihre Ausbreitung. Erst die Hungersnot von 1770 bahnte ihr den Weg. Grossen Anteil daran hatte Antoine Augustin P a r m e n t i e r (1737-1813) (s. Kap. 9, Frage 158) der als Apotheker in der französischen Armee diente und die Kartoffel im Siebenjährigen Krieg als Kriegsgefangener in Preudassen kennenlernte. Als die wissenschaftliche Akademie von Besancon einen Preis für denjenigen aussetzte, dem es gelänge, ein neues Nahrungsmittel zu "erfinden", das den Hunger der Menschen stille, gewann Parmentier ihn mit seiner Schrift "Die Kunst, Brod aus Erdäpfeln zu backen", die 1779 in Augsburg erschien*. Hierin steht das Rezept eines bekannten Kartoffelgerichts, der "Potage Parmentier", eine Kartoffelsuppe mit Porree, geröstetem Weidassbrot, Creme fraěche und Kerbelblättern. Parmentier machte die Kartoffel dadurch hoffähig, da er bekannte Persönlichkeiten, wie den Staatsmann, Physiker und Schriftsteller Benjamin Franklin, 1776-85 US-amerikanischer Gesandter in Paris, zu sich einlud und ihnen Menüs servierte, deren Gänge ausschliedasslich aus Kartoffeln bestanden. Ludwig XVI., der König mit dem menschenfreundlichen Herzen, förderte des Kartoffelanbau; er überließ Parmentier 50 Morgen Ackerland in der Ebene von Sablons.

Im Frankreich Napoleons wurde die Kartoffel zum Hauptnahrungsmittel der siegreichen französi-schen Armeen. Unter dem Bürgerkönig Louis Phillippe (1830-48), den man wegen seines Aussehens im Volk auch "König Birne" oder "König Kartoffel" nannte, wurde die Kartoffel für das aufstrebende Bürgertum zur Alltagsnahrung.

Auch in Italien verbreitete sich die Kartoffel nach 1770 dank der Tätigkeit von Philippo Baldini, dem "italienischen Parmentier", doch konnte sie dort die so beliebte "pasta" nicht verdrängen.


*) Die Kartoffel ist gänzlich ungeeignet, um daraus Brot zu backen. Dieser Irrtum Parmentiers hat viel zu der zögerlichen Aufnahme der neuen Pflanze in der Bevölkerung beigetragen. Denn Weizenbrot zu essen, galt als Statussymbol und war den höheren Ständen vorbehalten. Das Volk sollte mit der damals noch schlecht schmeckenden Kartoffel abgespeist werden.



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